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Zum Kommentar

„Hoch lebe der Präsident“

 

MT am 29.05.2018

 

HFB-18-06-01

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Politische Kommentare in Tageszeitungen sollen einen Überblick verschaffen über den Ablauf und den Stand der Dinge, die auch in verschiedenen anderen Tageszeitungen gemeldet sind. Dass der Sachverhalt aus einer bestimmten Perspektive betrachtet und eine Meinung verbreitet wird, ist durchaus erwünscht. Nur sollten Begründungen nicht fehlen. Ohne diese bleibt ein Kommentar ein hohlphrasiges Werk. Kommen dann noch „demagogische Sprüche“ hinzu, zeugt das von ausgeprägtem Dilettantismus.

 

Unter dem Titel „Hoch lebe der Präsident“ wird nun ein Mix aus kaltschnäuzigen Behauptungen sichtbar. Von „Antidemokraten“, „Antieuropäern“, „Spaltern“, „Schreihälsen und talentierten Radaubrüdern“ ist dort die Rede. „Demagogische Sprüche“ in diesem Ausmaß sind ein Unding. Der angebliche Kommentar von Norman Berg wird zur Hassbotschaft in Richtung Italien.

Man sollte meinen, der zuständige Chefredakteur habe Urlaub gehabt und diesen Kommentar gar nicht erst gelesen. Hat doch die Münsterländische Tageszeitung noch einen Tag zuvor mit einer ganzseitigen Anzeige auf ihr anspruchsvolles Qualitätssigel hingewiesen: „Alternative Fakten gehören K.O.“, heißt es dort. (1) Dieses tiefsinnige Leitbild scheint man offenbar nicht konsequent zu verfolgen oder man hat es nicht verstanden.

MT-BERG-Kommentar-Italien-18-01b

(2)

Weil der Kommentator von politischen Zusammenhängen, vor allem von Ökonomie, offensichtlich nicht viel versteht, weiß er auch nicht, dass diejenigen Umstände in Italien, die die Politikverdrossenheit verursacht haben, nicht einfach vom Himmel gefallen sind. Vielmehr ist es die politisch-alternativlose Ausrichtung der etablierten Politikerkaste, die bei vielen Menschen nicht mehr ankommt. In ganz Europa. Aktuell in Frankreich, wo Massenproteste allmählich zur Regel werden. Gegen Frankreichs Präsident Emmanuel Macron, der entgegen der Faktenlage in der deutschen Presse immer wieder nur so mit Lob überschüttet wird. Und nun gegen den Staatspräsidenten Sergio Mattarella in Italien, der durch ein Veto die Regierungsbildung verhindern wollte. Ökonom Paolo Savona wurde hierbei zur Persona non grata erklärte. Gerade er sollte als Minister in dem Schlüsselressort für Wirtschaft und Finanzen ausgeschaltet werden.

Bei allem Ungemach, das nicht allein durch den Brexit Großbritanniens, das Aufbegehren der katalanischen Unabhängigkeitsbewegung und den anstehenden Generalstreik in Athen beflügelt wird, ist es nur logisch, dass sich die politisch etablierte Klasse gegen Kritik wehrt. Immer heftiger, immer radikaler, wie zuletzt das von Flüchtlingen überschwemmte Italien erfahren musste, ohne dass es mit der nötigen Unterstützung der gesamten europäischen Union rechnen konnte. „Lampedusa“ wurde zum Synonym für dieses unsolidarische Verhalten. Der Volkszorn fand weitere Nahrung. Er drückte sich aus durch Politikverdrossenheit mit der lautstarken Forderung nach politischen Alternativen.

Da war zudem die Bankenrettung. Diese wird allein den deutschen Steuerzahlern ca. 240 Milliarden Euro kosten (3). Die Rettung konnte nur in Verbindung mit „Reformen“ umgestzt werden. Die Reformen waren nichts anderes als die Umverteilung des gigantischen Schuldenberges von oben nach unten. Um die Spekulanten zu entlasten, wurden die einfachen Bürger zur Kasse gebeten. U.a. in Deutschland, Portugal, Griechenland, Spanien und Italien. In den südlichen Ländern stieg die Jugendarbeitslosigkeit massivt. Junge Menschen sind z.Zt. die größten Verlierer der “Crisi”, der italienischen Dauermisere, die nun schon zehn Jahre währt. Die Jugendarbeitslosenquote unter den 15- bis 24-Jährigen, Schüler und Studenten ausgenommen, beträgt fast 32 Prozent. In der Altersgruppe 25 bis 34 hat jeder Sechste keinen Job (4). Dennoch war weiterhin Sparen, Sparen, Sparen angesagt. Unter dem Slogan „Schwarze Null“ bewegte sich nun nichts mehr. Was folgte, war investiver Stillstand.

Hinzu kamen die Kürzungen von Leistungen wie Arbeitslosenhilfe, Rente, Krankenversorgung u.v.m.. Gleichzeitig verschärften sich die politisch durchgepeitschten Privatisierungstendenzen, einhergehend mit steigenden Mieten, Bau- und Grundstückspreisen bei drastisch hoher Mehrwertsteuer in vielen europäischen Ländern. Während man also “Schaden vom Kapital abzuwenden” versuchte, wurde dem einfachen Volk Schaden zugefügt. Gefühlt hieß das: Profit steht über alles bei staatlich verbotenen Investitionen!

Wer in Europa etwas bewegen will, muss investieren. Das aber scheint das auf viele Länder Europas ausgedehnte Spardiktat der Schwarzen Null nicht zuzulassen. Die Sparpolitik wurde allmählich zum alternativlosen Manifest. Heute duldet es keinen Widerspruch mehr. Gegner dieser Politik werden beschimpft und gnadenlos in die rechte Ecke gedrückt. So wie es der Kommentar demonstriert.

In Deutschland wird dieser Stillstand z.B. sichtbar durch marode Straßen und Brücken, durch ein rückständiges Bildungswesen oder ausbaufähige öffentliche Einrichtungen wie Schwimmbäder, Kindergärten, Krankenhäuser mit schmalstem Budget u.s.w.. Als herausragendes Symbol für den Investitionsstau gelten vor allem Deutschlands Schulen. Der kommunale Investitionsstau wird auf über 120 Milliarden Euro geschätzt. In südlichen Ländern ist die Lage noch prekärer. Hier brechen vor allem ehemals gut funktionierende Familienstrukturen auseinander. Die Armut nimmt rasant zu. Alles das ist das erschütternde Ergebnis einer äußerst restriktiven Sparpolitik, die zu immer mehr Unzufriedenheit bei den Europäern führt.

Kein Wunder also, dass auch die italienischen Staatsbürger aufbegehren und nach politischen Alternativen suchen. Und wenn ihre Wahlentscheidung nur der Protest gegen bleierne Zustände ist, so bleibt sie dennoch demokratisch. Zur Wahl zugelassene und gewählte italienische Kandidaten und deren Parteien können somit niemals eine Ansammlung von „Antidemokraten“ sein. Sie darüber hinaus als „Antieuropäer“ und „Spalter“ zu beschimpfen, zeugt von besorgniserregender Unkenntnis über nationalstaatliche und ökonomische Zusammenhänge. Dass Deutschland ein dominierender Faktor in der Eurozone ist, kann mittlerweile nicht mehr bestritten werden. Denn das deutsche Wirtschaftsmodell, das selbst die Binnennachfrage abwürgt und auf exorbitante Außenhandelsüberschüsse setzt, schadet Deutschland, die EU und die USA (5). Damit kann es auch nicht völlig undenkbar sein, dass sich die Italiener „versklavt“ fühlen.

Die Inhalte von italienischen Parteiprogrammen pauschal als „Demagogische Sprüche“ herabzuwürdigen, verweist auf antiintellektuelle Niveaulosigkeit, die ihre Steigerung noch dadurch erfährt, die Sprecher der gewählten Parteien pauschal als „Schreihälse und talentierte Radaubrüder“ zu bezeichnen.

Eigentlich hatte doch nur der, der ehemals von „Blühenden Landschaften“ sprach, „das Blaue vom Himmel versprochen“. Das aber war nicht einer der aktuell gewählten Politiker Italiens, sondern der ehemaliger Bundeskanzler Helmut Kohl (CDU). Auch weist der Kommentar nicht deutlich genug darauf hin, dass eine vom Volk gewählte Regierungsmehrheit vom italienischen Staatspräsidenten Matarella ausgebremst wurde zugunsten eines Vertreters der europäischen Finanzwirtschaft. Nun also sollte es der ehemalige Direktor beim Internationalen Währungsfonds, Carlo Cottarelli, richten. Diesen außergewöhnlichen Vorgang im Zusammenspiel mit Brüssel muss man sich auf der Zunge zergehen lassen. Da sollten doch mal alle europäischen Demokraten ins Grübeln kommen, um Schlimmeres zu vermeiden.

Der Volkszorn ist bereits vorprogrammiert mit all seinen Folgen. Vorprogrammiert durch die etablierten Politkräfte, die um ihre Einflüsse fürchten müssen. Anstatt unverzüglich die Demokratie einzufordern, heißt es vielmehr: „Hoch lebe der Präsident“. „Solche Sprüche mögen demagogisch wertvoll sein, geistreich sind sie nicht“. Sie führen geradewegs in den Untergang.

Inzwischen hat eben dieser verehrte Präsident kalte Füsse bekommen und ist zurückgerudert. Und dass es am Ende auch ohne „Radaubruder“ geht, zeigt der folgende Kommentar (6). Bleibt dann nur noch zu bemerken:

 “Hoch lebe die Demokratie”.

 

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Quellen:

(1)    MT, 28.05.2018.

(2)    MT, 29.05.2018.

(3)  Deutsche Wirtschaftsnachrichten, Banken-Rettung kostet deutsche Steuerzahler 236 Milliarden Euro, 01.06.2018.

(4)  SPON, Aufstand der Mamakinder, 31.05.2018.

(5)  Makroskop, Eine deutsche Falle für Italien, 01.06.2018.

(6)  MT, 01.06.2018.