Die Grundsätze des neuen Schulgesetzes sollen darauf hinweisen, dass der Sozialdemokratie die Chancengleichheit besonders am Herzen liegt. Es gilt die Ewigkeitsklausel „Die Würde des Menschen ist unantastbar“ (vgl. Art. 1 GG). Da jeder Mensch mit seiner Würde als einzigartig zu gelten hat, wird der Weg zu mehr Chancengleichheit kein Zuckerschlecken sein. Ihn zu beschreiten ist vielmehr die öffentliche Pflicht der Verantwortlichen. Der Politik also, deren sich die Sozialdemokraten im Besonderen angenommen haben. Im Folgenden sollen die Grundsätze erläutert werden. Auf kritische Hinweise wird hierbei nicht verzichtet:
--> Der Elternwille zählt!
Das ist nichts Neues im Schulgesetzt und ist der Hinweis auf basisdemokratische Strukturen, die somit gestärkt werden. Der Elternwille ist jedoch mit einer gehörigen Portion an Verantwortung verbunden. Diese Verantwortung billigt das Schulgesetz den Eltern ohne Wenn und Aber zu. Dass die Umsetzung des Elternwillens auch mit einer Fehlentscheidung verbunden sein kann, liegt auf der Hand. Leider sind die Rückläuferzahlen der Schüler, die das Gymnasium aufgrund mangelnder Leistungsfähigkeit verlassen müssen und auf eine Realschule wechseln, besorgniserregend. Hierzu später mehr!
--> Endlich besser ausgestattet: Ganztagsschulen!
Ganztagsschulen gelten als Erfordernis einer modernen Gesellschaft. Bisher wurde an vielen Schulen bereits am Nachmittag unterrichtet. Doch für die Schüler war die Teilnahme eher freiwillig, denn ein regulärer Unterricht fand nicht statt. Stattdessen wurden z. B. Kurse oder Förderunterricht angeboten.
Selbstverständlich mussten die Schüler mittags verpflegt werden. Das konnte mit Hilfe provisorisch eingerichteter Mensen geschehen. Neubauten von Mensen waren nur schwer durch zu setzten, da nur wenige Schüler das Mittagsangebot wahrnahmen. Für den Mensabau sind die Schulträger zuständig, nicht das Land Niedersachsen. Da es mit den Finanzen der Kommunen nicht rosig aussieht, wurde die Einrichtung von Mensen zunächst stiefmütterlich behandelt. Inzwischen ist der Ganztagsunterricht verbindlich geworden. Die Schulpflicht besteht nun an manchen Wochentagen auch am Nachmittag.
Doch Vorsicht: Nicht allen Kindern dient der zusätzliche Nachmittag in der Schule. Das betrifft vor allem Vereinsmitglieder, sportlich Aktive oder von den Eltern selbstbetreute Kinder! In diesem Punkt wird dem Elternwillen eigentlich widersprochen! Sie haben keine Wahl. Wie bereits gesagt: Es gilt die ganztägige Schulpflicht!
Nach den Vorgaben des neuen Schulgesetzes werden die Ganztagsschulen endlich besser ausgestattet. Nicht mit besseren Stühlen und Möbeln, nicht mit guten Teppichböden, nicht mit exklusiven Beleuchtungen, die den überwiegenden Kasernencharakter der Schulgebäude abmildern könnten, sondern mit mehr Lehrpersonal. In einer Ganztagsschule fallen mehr Unterrichts-, Betreuungs- und Förderstunden an, so dass die Personalaufstockung sinnvoll erscheint.
Die Finanzierung dieser zusätzlichen Stellen sollte zunächst über Reduzierung der Gymnasiallehrergehälter abgewickelt werden. Doch die Lehrergewerkschaften -voran der Deutsche Philologenverband- hatten erfolgreich dagegen geklagt. Das Oberverwaltungsgericht Lüneburg kassierte das Finanzierungskonzept der jetzigen Landesregierung ein. Nun müssen die Gelder durch Neuverschuldung des Niedersächsischen Landeshaushaltes beschafft werden. Eine peinliche Situation für das Kultusministerium in Hannover.
Nicht zu unterschätzen ist, dass die neue Konzeption der Ganztagsschule auch für den Schulträger einen höheren finanziellen Aufwand mit sich bringt. Für die Kommunen wird Schule teurer. Mensen dürfen keine Provisorien mehr darstellen. Denn wenn mehr Schüler als bisher über Mittag in der Schule verweilen müssen, dann wird das Essensangebot nicht ausbleiben dürfen.
Die Stadt Cloppenburg hat inzwischen vier Mensen gebaut: Die Mensa der Comenius-Oberschule, die Mensa der Paul-Gerhard-Schule, die Mensa in der Wallschule und die neue Mensa im Galgenmoor. Cloppenburg ist also gut gewappnet für die Ganztagsschule und hat –wenn auch nach massiven Widerständen der Cloppenburger Verwaltung- eine Menge Geld dafür ausgegeben.
Für die Stadt Cloppenburg wird die Ganztagsschule auch deshalb teurer, weil mehr zusätzliches Personal benötigt wird, um den erhöhten Verwaltungstätigkeiten und Instandhaltungsverpflichtungen zu meistern. Die Sekretärinnen und Hausmeister z.B. bekommen mehr Arbeit. Es kann gut sein, dass neue Stellen geschaffen werden müssen. Und diese werden nicht vom Land Niedersachsen bezahlt, sondern von der Kommune, die Schulträger ist.
Ein wenig Entlastung bietet der Gesetzgeber dennoch: Möglich macht das z.B. ein alter Erlass der Vorgängerregierung des Landes Niedersachsen. Der nämlich besagt, dass beim geringsten Verdacht einer Schülerstraftat Polizei und Staatsanwaltschaft eingeschaltet werden müssen. Hierdurch wird die Arbeit für einen bedeutenden Teilbereich des pädagogischen Raumes Schule regelrecht verboten. Die notwendige Fachbetreuung der auffällig gewordenen Schüler fällt somit unter den Tisch. Die tatsächlichen „Betreuer“ sind dann Polizei und Staatsanwaltschaft. Aus sozialpädagogischer Sicht kann das nicht richtig sein.
Die bessere Ausstattung der Ganztagsschulen mit mehr Lehrern ist die eine Seite. Der Erfolg dieser Einzelmaßnahme die andere. Ohne eine zusätzliche sozialpädagogisch ausgerichtete Personaldecke an allen allgemeinbildenden Schulen, die zudem in klar umrissenen Zuständigkeitsbereichen arbeiten müsste, können nur Teilerfolge erzielt werden! Auch wenn nun der Landkreis Cloppenburg Schulsozialarbeit mit 654.000 Euro für das Jahr 2016 (!) auf eigene Kosten fördert, bleibt das nur der Tropfen auf den heißen Stein. Über komplexe Zusammenhänge dieser Art herrscht nicht selten ein aggressiv emotionales Unverständnis.
Die Aufstockung mit mehr Lehrpersonal war für Ganztagsschulen seit Jahren überfällig. Ganztagsschule -wie sie die CDU/FDP-Landesregierung zuvor gestrickt hatte- könnte unverhohlen als Mogelpackung bezeichnet werden. Zu wenig Lehrpersonal und ein unverbindlicher Nachmittagsunterricht versprachen nicht das, was zuvor als Ganztagsschule bezeichnet wurde. Nun ist ein richtiger Schritt in die richtige Richtung getan. Wie nachgewiesen, besteht noch viel Handlungsbedarf für gut funktionierende Bildungseinrichtungen im Ganztagesbetrieb.
--> Endlich gleichberechtigt: Gesamtschulen!
Das ist korrekt. Nach dem alten CDU-Schulgesetz musste die Eingangsstufe einer Gesamtschule mindestens fünfzügig sein und nachhaltig die Schülerzahlen für 5 Klassen (125 SchülerInnen) garantieren. Nach dem neuen Gesetz ist vieles einfacher geworden. Eingangsvoraussetzung sind nur noch vier Klassen. Damit verschärfe sich die Konkurrenzsituation zwischen Gesamtschule und Gymnasium erheblich; zum Nachteil des Gymnasiums, so die CDU. Doch was genau sind die grundlegenden Unterschiede zwischen Gymnasium und Gesamtschule? Lohnt sich der Streit eigentlich?
Der Ansatz des Gymnasiums besteht laut CDU darin, die Begabung ihrer Schüler als Eingangsvoraussetzung anzusehen. Welcher Schüler für das Gymnasium begabt ist oder nicht, testierte die Grundschule in der vergangenen Zeit jedem Schüler nach 4 Jahren mit der Aushändigung Laufbahnempfehlung an die Erziehungsberechtigten. Diese sei unverzichtbar, so die Meinung der Konservativen.
Der Ansatz der Gesamtschule ist ein anderer. Heranwachsende Menschen entwickelten sich und könnten ihre Begabungen früher oder später entfalten. Die Gesamtschule orientiert sich an einer Pädagogik, die die Entwicklung des Menschen in den Mittelpunkt stellt und ihm damit hilft, seine Begabungen zu entfalten. Weil man weiß, dass nicht alle Menschen gleich sind, werden in der Gesamtschule Differenzierungen vorgenommen. Nach Klasse 10 muss das Zeugnis einen besonderen Zensurenschnitt aufweisen, der die Eingangsvoraussetzung für die Oberstufe mit abschließendem Abitur ist. Nicht alle Schüler erreichen diese Voraussetzung.
Abitur auf dem Gymnasium und Abitur auf der Gesamtschule sind gleichwertig. Es gibt keine Unterschiede. Wer es dennoch etwas anders behauptet, sei auf die Bestimmungen zum Zentralabitur hingewiesen: Schüler in verschiedenen Schulformen bekommen dieselben Aufgaben, die anschließend von mindestens zwei Lehrkräften korrigiert werden. Zudem können Schulen auf Anweisung der Landesschulbehörde dazu aufgefordert werden, ihre Arbeiten untereinander -zur Einsicht und evtl. korrigierenden Bewertung- auszutauschen. Das betrifft die Schulformen Gymnasium, Gesamtschulen und Berufsschulen nicht nur einseitig, sondern auch in Mischform.
Gesamtschulen sind ein Renner. Die erste –die Friedensschule in Münster- wurde im Jahr 1972 von Bischof Heinrich Tenhumberg gegründet. Die Oldenburger Gesamtschulen sind überlaufen und können sich vor Neuanmeldungen kaum retten. Vor nicht langer Zeit wurde in Oldenburg eine neue Gesamtschule einrichtet. In der Bischofsstadt Münster ebenfalls. Aber diesmal keine kirchliche, sondern eine staatliche! Der diesjährige Deutsche Schulpreis 2015 ging an eine Gesamtschule, der Gesamtschule Barmen in Wuppertal. Die Kreisstadt Cloppenburg mit 34.000 Einwohnern wartet immer noch auf eine Gesamtschule! Eine Schulform, die bereits seit mehr als 40 Jahren möglich ist.
--> Endlich wieder: Abitur nach 13 Jahren!
Unter der CDU geführten Landesregierung wurde eine Schulzeitverkürzung an Gymnasien von neun auf acht Jahre eingeführt. Das Abitur konnte somit um ein ganzes Schuljahr eher gemacht werden. Der bildungspolitische Ansatz war ein wirtschaftlicher: Je eher ein potenzieller Arbeitnehmer mit seiner Ausbildung fertig ist, desto länger kann er später dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stehen. Das Abitur nach 8 Schuljahren heißt aber nicht nur, dass das Lernen um ein Jahr verkürzt wird, sondern auch, dass die Unterrichtszeit, also die Pflichtstundenzahl aller Jahre bis zum Abitur, gleich bleiben muss! Mit der Schulzeitverkürzung war demnach eine höhere Arbeitsbelastung aller Gymnasiasten verbunden. Nachmittagsunterricht wurde so zu Pflicht. Der Vormittag mit 6 Unterrichtsstunden bot nicht ausreichend Zeit. Pädagogen bemängelten, dass die neue Zeitstruktur die Schüler überfordere. Es sei nicht genügend Freizeit mehr vorhanden, damit die Kinder sich in ihrer Schulzeit angemessen entfalten können, war der Kern der Argumentation. Die Pädagogen kritisierten aber auch, dass in vielen Fächern eine Entrümpelung von Themen nie stattgefunden habe. Das sei Jahrzehnte nicht geschehen und es sei eigentlich selbstverständlich, die aktuelle Lebenswirklichkeit mehr in den Mittelpunkt des Unterrichts zu rücken.
Nach der Landtagswahl 2013 versprach die neu gewählte rot-grüne Landesregierung eine Strukturänderung. Die Lerninhalte wurden -wie bei jeder Schulgesetzesnovelle- ausgeklammert. Mit der Verabschiedung des neuen Schulgesetzes zum 1. August 2015 war die Schulzeitverlängerung beschlossen, die nun aktuell ab der 8. Klasse des Gymnasiums gilt. Die Schüler des heutigen 8. Jahrganges werden ihr Abitur in der Klassenstufe 13 machen. Eine Entrümpelung der Fachthemen (des Kerncurriculums) fand bis heute nicht statt.
Nun hat Niedersachsen wieder die alten Zustände: Abitur nach 13 Jahren! Ohne neue Lerninhalte! Doch der Osnabrücker CDU Parteitag am 5. September 2015 kündigt an, vieles vom neuen Schulgesetz wieder rückgängig mache zu wollen, z.B. das Dreigliedrige Schulsystem –Hauptschule, Realschule, Gymnasium- zu stärken, wenn sie –die CDU- die Landtagswahl 2017 für sich entscheiden würden. Mal abwarten, kann man nur dazu sagen.
Ein wichtiger Kritikpunkt an dem nun wiedereingeführten G 9 (Abitur nach 13 Schuljahren) darf nicht übersehen werden: Das SPD geführte Nordrhein-Westfalen behält weiter das Abitur nach 12 Jahren (G 8). Es ist also besonders für Arbeitnehmerfamilien deutlich schwieriger geworden, zwischen Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen umzuziehen. Die Kinder dieser Familien würden an ihrem neuen Wohnort nur mit vielen Schwierigkeiten den Anschluss in der Schule finden. Ob das so sein muss, darf bezweifelt werden.
--> Endlich keine Laufbahnempfehlungen an Grundschulen!
Mit oder ohne Laufbahnempfehlung: Der Elternwille ist bereits seit Jahren garantiert. Und wenn Eltern, deren Kind für die Hauptschule empfohlen wurde, zum Gymnasium schickten, war das formell kein Problem. Diese Kinder wurden aufgenommen. Doch mit der ungünstigen Empfehlung „Hauptschule“ oder „Realschule“ war dem Gymnasium eine gesonderte Regelung möglich! Die nicht für das Gymnasium empfohlenen Kinder konnten nach unzureichenden Leistungen bereits in den Klassenstufen 5 und 6 mit der Begründung abgeschult werden, dass sie keine ausdrückliche Schullaufbahnempfehlung für das Gymnasium hätten.
Mit dem neuen Schulgesetz fällt die offizielle Empfehlung zwar weg. Doch diese wird in einem intensiven Beratungsgespräch zwischen Lehrern und Eltern mündlich ausgesprochen. Gehen die Kinder anschließend zu weiterführenden Schulen, ist die Laufbahnempfehlung dennoch bekannt. Sie ist rekonstruierbar durch die Daten in der Personalakte der betroffenen Schüler. Der Wegfall der Empfehlung ist also bloße Makulatur. Wichtig ist nur, dass sich mögliche Abschulungsverfahren am Gymnasium nicht mehr auf eine konkrete Schullaufbahnempfehlung berufen können. Falls dennoch eine Schülerkarriere gegen den Willen der Eltern vorzeitig zu beenden wäre, müssten intensivste Fördermaßnahmen nachgewiesen werden. Diese Vorgabe brächte einen hohen Verwaltungsaufwand mit sich, den Schulen aufgrund des Fachkräftemangels nur unzureichend gewährleisten könnten. Nach dem neuen Schulgesetz werden also alle Schüler, die das Gymnasium besuchen, den gymnasialempfohlenen Schülern gleichgestellt. Nur das ist der eigentliche Kern der neuen Bestimmung.
Auf ein weiteres muss hingewiesen werden: Von den Kindern in der 5. Klasse, werden sehr viele nicht das Abitur am Gymnasium machen. Die Rückläuferquote, also die Schüler, die im Laufe ihrer Schulzeit, u.a. auch freiwillig, das Gymnasium wieder verlassen und auf die Realschule oder Hauptschule (Beide Formen sind inzwischen zu Oberschulen zusammengefasst) gehen, ist besorgniserregend. Die Schulleiter der Oberschulen können ein Lied davon singen! Der Misserfolg der durch eine Abschulung vom Gymnasium zum Ausdruck kommt, wird zur psychischen Belastung für die Kinder und Jugendlichen und verfolgt sie das gesamte Leben hindurch! Somit scheint es nicht verwunderlich, wenn noch im Erwachsenenalter eine ausgeprägte Angstreaktion in Form einer „Gymnasiallehrerphobie“ diagnostiziert werden kann.
Nach den Ergebnisseen einer Studie für Soziologie und Sozialpsychologie von Stefanie Jähnen und Marcel Helbig (September 2015, Band 67, Heft 3, Seite 539-571) führt der freie Elternwille und die Abschaffung der Schullaufbahnempfehlung dazu, dass zwar mehr Kinder das Gymnasium besuchen, aber die soziale Ungleichheit dort nicht zunimmt. Damit wurde die bisherige Annahme widerlegt, dass Kinder aus höheren sozialen Schichten beim Zugang zum Gymnasium bevorteilt sind. Folglich sind Kinder aus niedrigen sozialen Schichten auch nicht besser gestellt. Das Verhältnis zwischen beiden sozialen Schichten ist demnach unverändert geblieben.
Mit dem absoluten Elternwillen wird das Ziel der Bildungsgerechtigkeit bzw. der Chancengleichheit also nicht erreicht. Diese wird weiterhin ein Problemfeld im Deutschen Bildungssystem darstellen. Forscher meinen, dass die mangelnde Chancengerechtigkeit die größte Baustelle im deutschen Bildungssystem bleibt, auch wenn es sehr langsame Fortschritte zu vermelden gibt.
Und nun?
Ob das neue Schulgesetzt hält, was es verspricht, muss die Zukunft zeigen. Theorie und Praxis unterscheiden sich erfahrungsgemäß deutlich voneinander. Kritische Anmerkungen zum neuen Schulgesetzt müssen ernst genommen werden. Es gibt einen Bedarf an nachträglichen Regelungen für unzumutbare Härten und nicht eintretenden Erwartungen.
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