Im Juni 2016 sprachen sich 52 Prozent der Briten für einen Austritt aus der Europäischen Union aus. Bei einer Wahlbeteiligung von 72,2 Prozent ein durchaus demokratisches Ergebnis, welches den Brexit-Gegnern zunehmend ein Dorn im Auge scheint. „In Großbritannien dämmert so manchem Bürger, dass er Brexit-Populisten (…) auf dem Leim gegangen ist (…). In dieser Situation (…) ist der Vorschlag (…), ein neues Brexit-Referendum abzuhalten, ein guter Vorschlag“, heißt: Wenn es schwierig wird, dann solange abstimmen, bis es passt. Schließlich hätten sich die jungen Wähler kaum am Referendum beteiligt, heißt eines der Standardargumente. Bei einer Wiederholung des Referendums könnte das allerdings ganz anders aussehen. Es wird übersehen, dass inzwischen der Corbyn-Effekt wirkt.
Jeremy Corbyn ist seit geraumer Zeit der neue Hoffnungsträger von Labour, dem erfolgreicheren Pendant der Bundes-SPD. Corbyn hat es geschafft, eine grosse Zahl von Neumitgliedern zu mobilisieren, die ihm langfristig den Rücken stärken. Der Labour-Abgeordnete war noch nie ein Freund der EU. Nunmehr vertritt er die Auffassung, dass Labour eine neue Zollunion aushandeln müsse, um Zölle zu vermeiden. Er liegt somit auf der Linie von Premierministerin Theresa May.
Es war gerade Jeremy Corbyn, der für Labour fast 10 Prozentpunkte mehr herausschlug. Theresa May kostete diese Wahl trotz Zugewinne die absolute Mehrheit. May setzte sich 2017 für vorgezogene Wahlen ein, weil sie genau das Gegenteil erwartet hatte. Nur ging das bekanntlich gründlich in die Hose!
Welche Wählergruppe sich nun mehr oder weniger an dem Referendum beteiligt hat, spielt also keine Rolle. Wichtig ist nur die Mehrheit von über 50 Prozent. Würden knappe Ergebnisse von Bundestagswahlen so wie die des Bexit-Votums gesehen, könnte die Demokratie einpacken. CDU-Europa-Abgeordneten Brok scheint das nicht weiter zu interessieren. Seine populistischen No-Brexit-Äußerungen sind ihm wichtiger.
Letztendlich scheinen dem Kommentator Giorgio Tzimurtas diese Zusammenhänge nicht in den Sinn zu kommen, wenn er munter drauflos poltert und von „Brexit-Populisten“ spricht. Er sollte eigentlich wissen, dass es bei den gegenwärtigen Brexit-Verhandlungen um einen inszenierten Ausstiegspoker geht, der von beiden Seiten, von der EU und von Großbritannien, umso mehr angeheizt wird, je näher der offizielle Austrittstermin am 29. März 2019 rückt. Er sollte auch wissen, dass Populismus zum politischen Alltagsgeschäft gehört. Das “pure Chaos” ist also die bekannte Show zum Poker. Aber dennoch schlägt sich Tzimurtas auf die Seite der Gegner und übernimmt sogleich die populistische Propaganda ohne das journalistisch ausgewogene Maß.
Die eigentliche Frage ist doch nicht, ob ein Austrittsvertrag zustande kommt (weicher Brexit), oder nicht (harter Brexit), sondern wer am meisten zu verlieren hat. Hier sieht es für Deutschland nun gar nicht gut aus. Aus dieser britischen Poolposition heraus ist es nur umso verständlicher, „(…) dass Premierministerin Theresa May auf eine lange Phase der diffusen Andeutungen über die Bedingungen des Brexits dazu übergegangen ist, hin und her zu lavieren (…). Auf den Punkt gebracht: Großbritannien war stets ein ernstnehmender Wirtschaftspartner, der für den, der ihn verliert, ein herber Verlust wäre.
Warum wird nicht gesagt, dass die deutschen Exporte nach Großbritannien um die 100 Milliarden Euro pro Jahr ausmachen, während die Handelsbilanz umgekehrt nur die Hälfte ist? Die Autoproduktion in Großbritannien hat inzwischen nur einen einstelligen Prozentanteil am britischen BIP. Die Produktion der Automarken Aston Martin, Bentley, Jaguar und Land Rover und Rolls Royce ist im Vergleich zu früheren Zeiten stark zurückgefahren. Zudem sind VW und BMW z.T. Anteilseigner an den ehemals renommierten Automarken des ehemaligen Empires.
Trotz aller Zerschlagung durch die Ära Thatcher -in den 1980ern und 90ern- hat die britische Industrie bei einer Exportquote von über 50 Prozent weiterhin eine gesamtwirtschaftlich starke Bedeutung. Deutschland sollte diese nicht unterschätzen.
Großbritannien wird nach einem Brexit -wie immer der ausfällt- nicht in den Ruin getrieben. Dazu ist die Wirtschaftskraft zu mächtig und zu sehr mit den USA und teilweise auch mit dem ehemaligen Commonwealth vernetzt. Wer dagegen aufpassen muss, ist Deutschland und das von ihm dominierte Europa. Dort geht allmählich die Existenzangst um, weil zusätzlich zu Russland ein weiterer, noch wichtigerer und starker Handelspartner wegfallen könnte. Immerhin betragen die deutschen Exporte nach Großbritannien nahezu ein Viertel des gesamteuropäischen Exportvolumens. Die “Rosinenpickerei”, der deutliche Exportüberschuss Deutschlands, könnte demnach ein schnelles Ende nehmen.
Und so wird es niemals zu einem harten Brexit kommen. Von wegen „Brexit-Populisten“. Es sind vielmehr die No-Brexit-Populisten, die lautstark dagegen halten. Europa, vor allem Deutschland, wird letztendlich einen Kompromiss eingehen müssen, der besonders der britischen Premierministerin großes Ansehen im Vereinigten Königreich verschaffen wird. Am Ende möchte jede Seite natürlich ihr Gesicht wahren. Da kann die Presse durchaus weiterhelfen.
Was nun den Kommentar von Giorgio Tzimurtas betrifft: Eine allumfassendere und damit ausgewogenere Aufklärung wäre wünschenswert gewesen. Die Welt hat sich verändert! Hierzu hätte er sich ein wenig mehr schlau machen müssen. Die populistischen Einwürfe waren zu viele und zu inflationär. „Guter Vorschlag“? Wohl kaum! Die Weißwaschung der Bexit-Gegner ist nun mal kein journalistisches Ruhmesblatt. Der populistische Wahlaufruf schon gar nicht. Ein deutlicheres Bekenntnis zur Demokratie war nicht angesagt. Die Leser hätten es ihm gedankt.
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